Anfang 2015 wurde der Singapurische Internationale Handelsgerichtshof (Singapore International Commercial Court oder SICC) eröffnet. Das Gericht ist als Teil des singapurischen Supreme Court für internationale Handelssachen zuständig und vereint schiedsgerichtliche und gerichtliche Elemente. Singapur will damit seine Position als internationales Streitschlichtungszentrum ausbauen.
Das Handelsrecht war immer schon ein wichtiger Schrittmacher und Vorreiter in der (Zivil-)Rechtsentwicklung, vielleicht weil es so nah am Puls der Zeit liegt. Handelsrecht gesprochen wird in den Zivilgerichten, und dass solchen Gerichten Spezialzuständigkeit erteilt wird, ist eigentlich nichts Neues. Der Commercial Court für England und Wales wurde 1895 gegründet, das erste Handelsgericht in Deutschland 1804 etabliert. In Frankreich kennt man Handelsgerichte sogar schon länger, seit dem 16. und 17. Jahrhundert.
Relativ neu am Handelsrecht und an der Handelsgerichtsbarkeit ist das Internationale daran. International in dem Sinne, dass Handelsbeziehungen heutzutage oft über die Rechtsordnung und Gerichtsbarkeit jeweils eines (aber eben nur eines) weltumspannenden Imperiums wie dem Römischen Reich oder dem Britischen Weltreich hinausgehen und mehrere, sich oft drastisch voneinander unterscheidende Rechts- und Verfahrensordnungen berühren, ja geradezu voraussetzen. Mal solche aus dem common law, mal aus dem civil law, dann basierend auf der Scharia. Dazu Mischformen.
In materiellrechtlicher Hinsicht dominieren bestimmte Rechtsordnungen bestimmte Sektoren des internationalen Handels. Das sind vor allem US-amerikanische und englisch-walisische Rechte, nicht zuletzt weil Englisch die lingua franca des internationalen Handels ist. Dass Streitigkeiten in solchen Angelegenheiten, soweit sie gerichtlich ausgetragen werden, am besten vor ein US-amerikanisches oder englisches Gericht gebracht werden sollten, versteht sich.
Daneben gibt es das UN-Kaufrecht oder die UNIDROIT-Grundregeln für internationale Handelsverträge sowie eine Vielzahl fakultativer Sonderregeln für Sonderbereiche. In (im weiteren Sinne) prozessrechtlicher Hinsicht gab es insoweit lange Zeit kein gerichtliches Pendant. Das internationale Schiedswesen, gründend auf dem Prinzip der flexiblen und privatautonomen Gestaltung des Verfahrens, ist gerade kein prozessuales Gegenstück zu staatlich positiviertem Recht oder staatlich befürworteten Rechtsvorschlägen. Zwar unterliegt das internationale Schiedswesen seit Jahren einer fortschreitenden Institutionalisierung und Normierung, dies jedoch unter der Grundvoraussetzung der Schiedsvereinbarung. Selbst wenn sich die Parteien Verfahrensregeln „von der Stange“ geben und vereinbaren, dass das Verfahren von einer Schiedsinstitution administriert werden soll.
So dauerte es bis 2006, als mit dem Dubai International Financial Centre Court ein staatliches Handelsgericht mit internationaler Zuständigkeit seine Arbeit aufnahm. Echte internationale Zuständigkeit für bestimmte internationale Handelsrechtsstreite erhielt es erst 2011. Jetzt, am 5. Januar 2015, ist nach zweijähriger Vorbereitungszeit der SICC eröffnet worden.
Politisch ausdrücklich gewollt, soll der SICC zum Wachstum des singapurischen Rechtsdienstleistungssektors beitragen und Akteure im internationalen Handel zur Wahl singapurischen Rechts anregen. Damit steht die Eröffnung des SICC in einer Reihe von Maßnahmen, mit denen Singapur sich als internationales Streitschlichtungszentrum positioniert hat, angefangen mit der Gründung des Singapurischen Internationalen Schiedszentrums (Singapore International Arbitration Centre oder SIAC) im Jahr 1991 bis zur Eröffnung des Singapurischen Internationalen Mediationszentrums (Singapore International Mediation Centre oder SIMC) im Jahr 2014.
Der SICC soll für hochwertige, komplexe und grenzüberschreitende Handelssachen zuständig sein.
Dabei bietet der Gerichtshof den Parteien einige Vorzüge eines Schiedsverfahrens wie zum Beispiel Flexibilität bei der Wahl der Beweisregeln und der Prozessvertreter sowie, auf Antrag, den Ausschluss der Öffentlichkeit. Hinzu kommen genuin gerichtliche Elemente wie die Möglichkeit der Streitgenossenschaft oder der Vorlegungspflicht Dritter sowie ein Instanzenzug zum Court of Appeal (es sei denn, er wird von den Parteien schriftlich ausgeschlossen), denn der SICC ist Teil des singapurischen High Court. Zusätzlich zum bestehenden Richterkollegium des High Court gehört ihm eine Gruppe hochrangiger internationaler Juristen an.
Zuständigkeit
Gemäß dem entsprechend angepassten Supreme Court Judicature Act ist der SICC zuständig für eine Klage, die beziehungsweise einen Anspruch, der—
- internationaler und gewerblicher Natur ist (international and commercial in nature),
- in die herkömmliche zivilrechtliche Zuständigkeit des High Court fällt und
- weitere Voraussetzungen erfüllt, die in der singapurischen Zivilverfahrensordnung (Rules of Court) niedergelegt sind.
Mit Blick auf den dritten Punkt ist vor allem die neue Order 110 der Rules of Court zu erwähnen. Darin wird unter anderem definiert, was unter internationaler und gewerblicher Natur zu verstehen ist.
Demnach ist ein Anspruch international, wenn entweder—
- die Parteien sich in einer schriftlichen Gerichtsstandsvereinbarung geeinigt haben, ihn dem SICC (nicht: dem High Court) zur Entscheidung vorzulegen und ihre Geschäftssitze zum Zeitpunkt der Vereinbarung in verschiedenen Ländern haben,
- keine Partei ihren Geschäftssitz in Singapur hat,
- ein wesentlicher Teil der Verpflichtung aus der gewerblichen Beziehung zwischen den Parteien in einem Land zu erfüllen ist, in dem keine der Parteien einen Geschäftssitz hat,
- der Streitgegenstand die engsten Verbindungen zu einem Land aufweist, in dem keine der Parteien einen Geschäftssitz hat, oder
- die Parteien ausdrücklich vereinbart haben, dass sich der Streitgegenstand auf mehr als ein Land erstreckt.
Gewerblich ist ein Anspruch, wenn sein Gegenstand aus einer gewerblichen Beziehung hervorgeht, sei sie vertraglich oder nicht. Beispielhaft, jedoch nicht abschließend für solche gewerblichen Beziehungen aufgeführt werden Vorgänge betreffend Lieferung oder Austausch von Waren oder Dienstleistungen, Vertriebsvereinbarungen, Factoring oder Leasing, Bau‑, Beratungs‑, Ingenieurstätigkeiten oder Lizenzvergaben, Investitionen, Finanzierungen, Bank- und Versicherungswesen, Abbau- und Konzessionsvereinbarungen, aber auch Joint Ventures oder jede andere Art von gewerblicher Zusammenarbeit oder Fusionen und Zusammenschlüsse von Unternehmen sowie der Personen- und Gütertransport zu Land, Wasser oder in der Luft.
Zu beachten ist, dass ein internationaler gewerblicher Rechtsstreit mit einem singapurischen Gerichtsstand auch ohne ausdrückliche Gerichtsstandsvereinbarung zwischen den Parteien vom (herkömmlichen) High Court an den SICC verwiesen werden kann. In einem solchen Fall ist den Parteien rechtliches Gehör zu gewähren, falls sie der Ansicht sind, dass der Streit dennoch beim (herkömmlichen) High Court bleiben soll.
Schon vor einer Verweisung vom (herkömmlichen) High Court an den SICC kann von beiden Parteien oder von einer Partei allein ein pre-action certificate beantragt werden, mit dem grundsätzlich entschieden wird, ob der Rechtsstreit internationaler und gewerblicher Natur ist. Die Entscheidungskraft solch eines Zertifikats beträgt sechs Monate. Es ist ganz oder teilweise anfechtbar.
Zusammensetzung
Jeder Rechtsstreit vor dem SICC wird entweder vor einem Einzelrichter oder vor einem aus drei Richtern bestehenden Gremium verhandelt. Zu den besonderen Eigenschaften des SICC zählt, dass ihm nicht allein sämtliche Richter des singapurischen High Court, sondern auch hochrangige internationale Juristen angehören. Ein international judge wird auf Anraten des Premierministers und des Obersten Richters vom Präsidenten der Republik Singapur ernannt. Mit Wirkung vom 5. Januar 2015 sind elf internationale Richter ernannt worden. Sie kommen aus Australien, Frankreich, Hongkong, Japan, Österreich, den USA und dem Vereinigten Königreich. Ihre Amtszeit beträgt drei Jahre.
Nunmehr ist es also möglich, einen Rechtsstreit, der zum Beispiel deutschem Recht unterliegt, vor drei Richtern am SICC zu verhandeln, von denen alle aus dem kontinentaleuropäischen Rechtskreis stammen (Frankreich, Japan, Österreich). Die Prozessvertretung vor diesem singapurischen Gericht kann – auch das eine Neuheit – von einem vor dem SICC zugelassenen deutschen Rechtsanwalt erfolgen.
Prozessvertretung auch durch nicht-singapurische Rechtsanwälte
Jeder ausländische Rechtsanwalt – also jeder nicht als advocate and solicitor in Singapur zugelassene, meist einheimische Anwalt –, der über mindestens fünf Jahre Berufserfahrung verfügt, ordnungsgemäß bei seiner heimatlichen Anwaltskammer zugelassen und der englischen Sprache hinreichend mächtig ist, kann beantragen, beim SICC registriert zu werden. Ein Sitz in Singapur ist nicht erforderlich, doch steht die Möglichkeit der Registrierung natürlich auch demjenigen ausländischen Rechtsanwalt in Singapur offen, der hier einen Sitz hat und zugelassen ist, „sein“ Recht in Singapur zu praktizieren (registered foreign lawyer). Dasselbe gilt schließlich für einen ausländischen Rechtsanwalt, der – ohne advocate and solicitor zu sein – auch zugelassen ist, singapurisches Recht zu praktizieren (registered foreign practitioner) (so wie der Verfasser, der sowohl registered foreign lawyer als auch registered foreign practitioner ist). Ein beim SICC registrierter ausländischer Anwalt ist ein registered foreign counsel.
Eine Streitpartei kann von einem registered foreign counsel allein, das heißt auch ohne advocate and solicitor, vetreten werden, wenn es sich bei dem Streifall um einen offshore case handelt. Dies ist definiert als ein Fall, der keine wesentliche Verbindung zu Singapur aufweist, weil entweder singapurisches Recht nicht anwendbar ist und der Streitgegenstand auch sonst singapurischem Recht nicht unterliegt, oder weil die einzige Verbindung zwischen dem Rechtsstreit und Singapur darin besteht, dass die Parteien die Anwendung singapurischen Rechts vereinbart und den Streit dem SICC vorgelegt haben.
Ist ein Rechtsstreit kein offshore case, so kann ein registered foreign counsel eine Partei lediglich teilweise, nämlich in Bezug auf das Recht beraten, in dem er zugelassen ist. Im Übrigen hat die Prozessvertretung durch einen zugelassenen advocate and solicitor zu erfolgen.
Singapurische Beweisregeln nicht zwingend
Einhergehend mit der Möglichkeit, sich von einem nicht im singapurischen Recht zugelassenen Rechtsanwalt vertreten zu lassen, erlauben die Verfahrensregeln den Parteien, ausländisches Recht (aus singapurischer Sicht) nunmehr durch entsprechend zugelassene registered foreign counsel vorzutragen, anstatt wie sonst den Beweis über ausländisches Recht durch Sachverständige erbringen zu müssen.
Darüber hinaus ist der SICC nicht an die sonst in Singapur geltenden Beweisregeln gebunden, also an das Netzwerk komplizierter Beweisregeln des common law, für die es in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen kein Gegenstück gibt – die oft sogar im Widerspruch zu kontinentaleuropäischem materiellen Recht stehen.
Stattdessen kann der SICC auf Antrag die Beweisregeln eines ausländischen Rechts anwenden. Dies ist wichtig vor dem Hintergrund, dass insbesondere das materielle Recht kontinentaleuropäischer Rechtsordnungen Darlegungs- und Beweislastregeln enthält. Beispiele hierfür sind die §§ 280 Absatz 1, 319 Absatz 1 BGB; 1 Absatz 2 HGB. Diese Regeln könnten ad absurdum geführt und schlimmstenfalls verletzt werden, wenn der SICC das singapurische Prozessrecht anzuwenden, also etwa einer Partei entgegen geltendem materiellem Recht Zugang zu Beweismitteln zu eröffnen hätte, die sich im Besitz des Gegners befinden.
Einschätzung
Zwei Tage nach der Gründung des Gerichtshofs wäre ein Ausblick auf das Kommende natürlich unseriös. Der SICC muss nun seine Arbeit aufnehmen, dann wird man irgendwann klarer sehen. Möglich ist jedoch eine Einschätzung, die auf den bisherigen Planungen, Verlautbarungen und jetzt vorgestellten Rechtsänderungen basiert und den politischen Willen Singapurs berücksichtigt, dem SICC die bestmöglichen Ausgangsvoraussetzungen zu geben.
Die Möglichkeit, sich in einem offshore case vor einem singapurischen Gericht von einem nicht im singapurischen Recht zugelassenen Anwalt vertreten zu lassen, könnte richtungsweisend sein. Mit Blick auf Rechtsstreite, die keine wesentliche Verbindung zu Singapur aufweisen, wird sich zeigen, inwieweit Parteien diese Möglichkeit wahrnehmen werden. Mit ausschlaggebend wird sicherlich sein, ob der SICC als eine wahre Alternative zu einem „eigentlich“ zuständigen ausländischen Gericht angesehen wird. Dies ist wahrscheinlich, wenn der SICC einen Streit zeit- und kostengünstiger und dabei qualitativ ebenso gut (oder besser) entscheiden kann als ein ausländisches Gericht.
Für einen Rechtsstreit, dessen Klassifizierung als offshore case daher rührt, dass seine einzige Verbindung zu Singapur in der Vereinbarung singapurischen Rechts und der Vorlage an den SICC besteht, drängt sich die Prozessvertretung durch einen nicht zur Beratung im singapurischen Recht zugelassenen Rechtsanwalt freilich nicht auf. Stattdessen wird es in einem solchen Fall oft sinnvoll sein, die Prozessvertretung einem Rechtsanwalt zu übertragen, der ausschließlich oder auch zur Beratung im singapurischen Recht zugelassenen ist. Entsprechend zugelassen sind advocates and solicitors beziehungsweise registered foreign practitioners.
Daneben mag es darauf ankommen, ob ein Urteil des SICC international ebenso wirksam anerkannt und durchgesetzt werden kann wie etwa ein internationaler Schiedsspruch.
Derzeit sind Urteile des singapurischen High Court (deren Teil der SICC ist) innerhalb einiger Mitgliedsstaaten des Commonwealth of Nations anerkennungs- und durchsetzungsfähig. Dagegen steht einem Urteil des SICC kein Hilfsmittel zur Seite wie das New Yorker Übereinkommen von 1958, das die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche in 153 Unterzeichnerstaaten grundsätzlich (das heißt nur in begrenzten Ausnahmefällen nicht) gewährleistet. Dies könnte sich ändern, sollte Singapur dem Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen beitreten und dieses Abkommen neben Mexiko auch von den zwei weiteren Unterzeichnern ratifiziert werden, der Europäischen Union (außer Dänemark) und den USA. Derzeit ist es noch nicht so weit [Update]. Gleiches gilt für Bestrebungen zur gegenseitigen Anerkennung und Durchsetzung von Gerichtsurteilen innerhalb des Verbands Südostasiatischer Nationen (ASEAN).
Mit dem SICC existiert nunmehr jedenfalls ein gerichtliches internationales Streitschlichtungsforum in Singapur für Parteien, die ihren internationalen Handelsrechtsstreit nicht vor ein Schiedsgericht tragen. Dabei bietet der Gerichtshof den Parteien einige Vorzüge eines Schiedsverfahrens.
Regierung und Parlament, zuvörderst aber die Gerichte in Singapur werden den SICC in ähnlicher Weise fördern wie das Schieds- und Mediationswesen. Es würde nicht überraschen, wenn die Gerichte bei erster Gelegenheit einen geeigneten Fall with much fanfare an den SICC verwiesen. In dieser Unterstützung ist angelegt, dass der SICC mit der Zeit an Profil und Reputation gewinnen wird. Gelingt dies, würde es dazu beitragen, dass ein Korpus singapurischen internationalen Handelsrechts entsteht, der seinen Teil zur Entwicklung des internationalen Handelsrecht beiträgt. Das würde Singapurs Stellung im Wettbewerb der Zivilrechtsordnungen stärken. Ferner würde Singapur so als Streitschlichtungsort insgesamt weiter aufgewertet, zum Nutzen auch alternativer Streitschlichtungsmechanismen wie Schiedsverfahren oder Mediation.
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